Der Philosoph Jörg Splett:
ein dialogisches Porträt

Hanns-Gregor Nissing im Gespräch mit Jörg Splett in: Nissing: Der Mensch als Weg zu Gott. Das Projekt Anthropo-Theologie bei Jörg Splett, München 2007

 

II. Werden (1956-1971)

Unter diesen Vorzeichen begann also nach dem Abitur 1956 das Noviziat in Eringerfeld in Ostwestfalen...

Zunächst war allerdings noch ein halbes Jahr Zeit. Währenddessen habe ich einen Tanzkurs und einen Schreibmaschinenkurs gemacht, an der Volkshochschule etwas Französisch gelernt... Es gab den schmerzlichen Abschied von einer der Töchter der Godesberger Herbergseltern... Vor allem gab es – im Ignatius-Jahr – eine Fahrt mit einem halben Dutzend Privatautos vom Aloisius-Kolleg aus nach Loyola. Aufgrund meiner Abiturnoten und meiner Berufswahl durfte ich mitfahren.
Die Ordenszeit selbst begann mit einem vierzehntägigen Postulat, in dem man von einem sogenannten „Angelus“ betreut und in die Grundregeln des Lebens im Haus eingeführt wurde. Dann folgte die Einkleidung, und das eigentliche Noviziat.

Am Beginn des Noviziats standen doch wahrscheinlich auch die dreißigtägigen ignatianischen Exerzitien?

Ja, sie gingen drei Tage vor Weihnachten zu Ende. Für diese dreißig Tage bin ich zutiefst dankbar, obwohl die Nerven am Ende schon blank lagen: die erste Woche mit dem Rückblick auf das eigene Leben und die eigene Schuld, die zweite mit dem Leben Jesu und den Entscheidungen, dann die schlimme dritte Woche mit der Betrachtung des Leidens. Zu dem Ergebnis, Ihm nahezukommen, es nicht besser zu haben als Er. Wenn man das alles durchmeditiert – sieben Stunden am Tag vier Wochen (mit zwei Pausentagen) lang, unter Schweigen – das zeichnet Spuren für ein Leben.
Schon die Art, sich selbst dabei kennen zu lernen, ist erstaunlich genug. Seither kommen mir „normale Leute“ immer ein bißchen naiv vor im Umgang mit sich selbst. Denn man gewinnt durch eine solche Erfahrung einen anderen Blick auf sich.

Welche geistlichen Einflüsse gab es in der Zeit des Noviziats außerdem?
Ich bin sehr froh über all das, was ich damals gelernt, gehört, gelesen habe. Vor allem waren es geistliche Autoren, die ich vorher noch nicht gekannt hatte: Erich Przywara, nicht nur sein großer Exerzitien-Kommentar, Deus semper maior. Das war wirklich prägend. Oder Hans Urs von Balthasar, John Henry Newman. Und Ignatius selbst, seine Briefe, die große Therese, Johannes vom Kreuz. Ein Jahr lang habe ich auch – später im „Scholastikat“ – Spanisch gelernt, um die Schriften der spanischen Mystiker zumindest mit dem Wörterbuch im Original lesen zu können.

Nach zwei Jahren des Noviziats folgte ab 1958 das „Scholastikat“, das heißt das Philosophiestudium, an der Hochschule der Jesuiten in Pullach bei München...

Wir waren dort insgesamt 150 Mitbrüder in drei Jahrgängen. Die Vorlesungen wurden auf Latein gehalten und waren natürlich eine Herausforderung.
Unter unseren Professoren waren Johannes B. Lotz, Walter Brugger und Josef de Vries „die drei Großen“. Brugger war streng und gefürchtet (im Alter wurde er von einer wunderbaren Güte). De Vries (von allen „Onkel Josef“ genannt) vertrat seine besondere Erkenntnistheorie aus dem Selbstbewußtsein à la Descartes. Lotz war sozusagen der Paradiesvogel, er redete in den Veranstaltungen zwischendurch auch deutsche Sätze oder griechische – und er hatte es mit Heidegger sowie dem „Sein“.
Die Philosophie, die wir lernten, war natürlich neuscholastisch, stark wohl von Suárez geprägt. Vermutlich haben wir nicht zu schätzen gewußt, wieviel bereits an moderner Philosophie darin war. Wir brauchten damals ja noch Indexerlaubnis für die Lektüre von Descartes oder Kant. Walter Kern las mit uns die Meditationes. Ihm verdanke ich den Zugang zu Hegel. Im Vordergrund standen die systematischen Fächer: Erkenntnistheorie, Metaphysik, Gotteslehre, Ethik, Gesellschafts­lehre, Anthropologie, Naturphilosophie physikalisch und biologisch, da­zu Logik, Psychologie, Pädagogik... Die Geschichte der Philosophie kam dagegen zu kurz – im Gegensatz zur Vermittlung an den staatlichen Fakultäten. Bei uns tauchte sie eigentlich nur in den Sentenzen auf, den Belegen für eine bestimmte systematische Position von Gegnern oder Gewährsleuten.
Der Unterricht selbst war lehrbuchmäßig in Form von Disputationen aufgebaut: Fragestand, Begriffe, Positionen, Beweis der These, Einwände und deren distinguierende Widerlegung. Im Examen wurde man entsprechend abgefragt. Zweimal im Jahr wurden solche Disputationen auch öffentlich und unter Beteiligung der Professoren gehalten. Ausgewählte Studenten traten als „defendens“ oder „obiciens“ von Thesen eines Professors auf. Mit Geschick und Glück konnte man erreichen, daß sich die Lehrer selber in die Haare gerieten…
Im Ganzen schulte diese Art von Ausbildung enorm. Wenn ich heutzutage etwa höre, wie Leute aneinander vorbeidiskutieren, bin ich dankbar für den Durch-Blick auf die Sachpunkte und Struktur der Argumentationen.

1960 erbaten Sie die Entlassung aus dem Orden. Was waren die Gründe dafür und aus welchem Anlaß verließen Sie den Orden?

Ich muß sagen, mir ist die Zeit im Orden von Beginn des Noviziats an schwer gewesen. Ein wenig wie unter einem Schatten oder dunklen Tuch. Zwar immer wieder durchbrochen von Phasen wirklicher und tiefer Freude, reich an Erkenntnissen und Einsichten. Aber der Last-Charakter überwog.
Im Noviziat herrschte ein enormer Zeitdruck: Spätestens nach einer Dreiviertelstunde läutete die Glocke. Man mußte sich die Zeit für eigene Vorhaben regelrecht stehlen. Ich war berühmt und berüchtigt dafür, Zeit zu schinden. – Warum aber war mir die Zeit so wichtig? Natürlich aus Mangel an Gelassenheit = Sich-Losgelassen-Haben. Und das ist die Kernfrage, kritisch und streng mit sich, wie man war. – Dann darf ich an meine Probleme mit Gemeinschaft erinnern. Wenn sich nicht dieser oder jener Mitbruder in Pullach meiner angenommen hätte, weiß ich nicht, wohin mich meine Depressivität geführt hätte.
Ein Gehorsamskonflikt mit dem recht rigorosen Rektor bot mir die Gelegenheit, um ein persönliches Gespräch mit dem Provinzial in Köln zu bitten. An dessen Ende sagte er mir, es gebe wohl auch Berufungen auf Zeit. Der Orden hat mich – zu meinem Heil, glaube ich – entlassen. Aber meine Spiritualität ist bis heute ignatianisch. Und großteils diesem Scheitern verdanke ich m. E., wofür Schüler und Freunde mir dankbar sind.

Was ist für Sie auf Dauer der wichtigste Gedanke der ignatianischen Spiritualität geblieben?

Das OAMDG = „Omnia ad maiorem Dei gloriam“. Übrigens gilt das auch benediktinisch (wir sind freundschaftlich zwei Benediktinerinnen-Konventen verbunden): UIOGD = „Ut in omnibus glorificetur Deus“. Zweitens das „agere contra“, Handeln gegen die eigene Neigung. Denn mit uns stimmt ja etwas nicht.
Statt den weiteren Lebensweg und die Entscheidung über die eigene Tätigkeit dem Orden zu überlassen, standen Sie nun vor der Situation, ihrem Leben selbst eine Definition und Ausrichtung zu geben. Welche Optionen haben Sie dabei erwogen? Und inwieweit ging mit dem Ordensaustritt zugleich eine Umdefinition der eigenen Existenzform vom Theologen zum Philosophen einher?

Die Umorientierung habe ich nicht so stark empfunden. Nach einem Semester in Köln, auf dem vernünftigerweise meine Eltern bestanden (es kam dort zur Aufnahme in die Studienstiftung), vermittelte mich P. Kern an Max Müller (der mich bei einer Disputation erlebt hatte) zur Promotion und schenkte mir dazu – in Fortsetzung der bei ihm geschriebenen Lizentiatsarbeit – sein eigenes Forschungsthema: die Trinitätslehre Hegels.
Zugleich stellte ich mich dem Studentenpfarrer P. Mariaux zur Verfügung. Der, zunächst begreiflicherweise zurückhaltend, vertraute mir schon im Folgesemester Arbeitskreise mit Germanisten und Naturwissenschaftlern an. So begann meine „Nebentätigkeit“.
Zu publizieren hatte ich schon in Pullach begonnen. Auf Anstoß von P. Erlinghagen in der Wiener Jesuitenzeitschrift Der große Entschluß sowie im Münchener Erdkreis. P. Ziegler, Akademikerseelsorger in Zürich, vermittelte mich zum Verlag Ars sacra. So konnte ich 1963 den Eltern mein erstes Büchlein unter den Weihnachtsbaum legen, biblische Meditationen: Er ist das Ja. Nach Abschluß der Dissertation kam dann auch die Wissenschaft dran: vor allem in Beiträgen und Rezensionen in der Scholastik, die dann umbenannt wurde in Theologie und Phi­losophie.

Ihre Dissertation über Hegels Trinitätslehre, die Sie 1964 abgeschlossen haben, ist ebenfalls auf der Grenze von Philosophie und Theologie angesiedelt. Was war für Sie das Faszinierende am Philosophen Hegel?

Die unglaubliche Materialfülle auf allen Gebieten und die übermenschliche Kraft, diese verstehend zu durchdringen und systematisch zu organisieren. Am Schluß meiner Arbeit habe ich mich kritisch von ihm abgesetzt – und kürzlich nochmals eigens einen Aufsatz geschrieben, warum man kein Hegelianer sein sollte. Aber seit damals bis heute habe ich stets dankbar bekannt, von ihm gelernt zu haben. „Solch eine Philosophie besitzt die wunderbare Fähigkeit, auch da zu erschließen, wo sie selbst nicht richtig sieht“ (Iljin).
Sehr wichtig ist für mich jedoch auch der Zugang zu Heidegger durch Max Müller geworden, vor allem aber die Begegnung mit Fichte, die ich Reinhard Lauth verdanke.
In die Mitte der sechziger Jahre fallen zwei weitere Ereignisse, die Ihrem Leben seine weitere Richtung gegeben haben. Zum einen lernten Sie Ihre Frau kennen…

1963, bei einem Faschingsball der Fachschaft Pädagogik. Ich hatte die Disziplin als Nebenfach gewählt (mit Fundamentaltheologie bei Heinrich Fries); mein Professor lehrte eigentlich an der Pädagogischen Hochschule in München-Pasing, und von dort kam eine seiner Studentinnen auch in das Universitätsseminar. 1964 verlobten wir uns und heirateten 1965.
1969 wurde Martin geboren, der in Mainz Assistent bei Armin Kreiner war und bei ihm über Debatten zur Gottesfrage promoviert hat. Er lebt mit seiner Familie in Osnabrück und leitet dort gegenwärtig die KHG. – 1971 wurde Thomas geboren. Er hat bei dem Max-Müller-Schüler und -Nachfolger Wilhelm Vossenkuhl in München über Maßstäbe und ihre Dynamik promoviert: Ordnung und Regel, Neuheit und Veränderung und arbeitet jetzt bei ihm in einem interdisziplinären Projekt zur Willensfreiheit an seiner Habilitation (zudem Malstudium an der Akademie!).

Sie haben wiederholt eine Radikalität in Ihren Entscheidungen und Lebensentschlüssen durchblicken lassen. Zu dieser Radikalität im Hinblick auf die Wahl der Lebensform gehört wahrscheinlich auch die bewußte Reflexion und Thematisierung von Ehe und Familie. 1970 erschien zum ersten Mal die Meditation der Gemeinsamkeit, eine „eheliche Anthropologie“, die Sie gemeinsam mit Ihrer Frau verfaßt haben und die mittlerweile bereits in dritter Auflage vorliegt. Daneben haben Sie vor allem in den Büchern Der Mensch: Mann und Frau (1984), Zur Antwort berufen (1985) oder Leibhaftig lieben (2006) eine Art Standeslehre für Laien und Eheleute entwickelt.

In der Tat muß ich gedanklich klar haben, was ich lebe. Mein Grundproblem war hier: Wie zugleich Gott und mein Du lieben, ohne Halbierung und Instrumentalisierung? Da reicht mir auch Rahners Lösung zur Einheit von Gottes- und Nächstenliebe nicht. Dafür bin ich durch Matthias Josef Scheeben auf Richard von St. Viktor, einen Theologen des 12. Jahrhunderts, gestoßen.
Das zweite Problem ist natürlich die humane Integration von Sexualität und Personwürde, da weder Sexus noch Eros von sich aus personal sind, wozu in der klassischen Anthropologie we­nig zu finden war (weder die Psychologia rationalis noch etwa Heidegger kennen ein Existential Geschlechtlichkeit).

Könnten Sie die Gedanken Richards, die für diesen Zusammenhang von Bedeutung sind, kurz skizzieren?

Richard konzipiert eine Trinitätslehre nicht innerpsychisch wie Augustinus, sondern interpersonal. Zur Liebe gehören drei, weil zwei erst wirklich eins werden in der Liebe zu einem Dritten. Einer ist Macht, zwei sind das Glück, aber die Selbstlosigkeit der Liebe in der Zulassung eines „consors amoris“, die Mit-Liebe erst vollendet die Liebe. – Angewendet auf mein Problem: Es gilt, mit dem Du Gott, mit Gott das Du zu lieben, und sich vom Du mit Gott, in Respekt vor deren Geheimnis, lieben zu lassen (wie dann das Paar, in solcher Liebe nicht als verschmolzene Hälften, sondern mit-eins geworden, mit Gott das Kind liebt, das er schenkt – statt daß die Ein-Kind-Familie zum Trinitätsbild würde).
Dieser Ansatz erlaubt übrigens auch ein wechselseitig erhellendes Zueinander von ehelicher und zölibatärer Lebensform, indem die „Grundtonart“ ehelicher Christlichkeit das Mit-ein­ander auf Gott zu ist, die Grundtonart des Zölibatären oder Gelübde-Christen das Mit-Gott hin zu den Menschen.

Zurück in die sechziger Jahre, in die zum anderen seit 1964 Ihre Assistenzzeit bei Karl Rahner am Institut für christliche Weltanschauung an der Universität in München fällt. Wie war es zu dieser Tätigkeit gekommen und wie hat man sich die Arbeit im Institut vorzustellen?

1964 wurde Karl Rahner auf den Guardini-Lehrstuhl in der Philosophischen Fakultät berufen. Aus Rom brachte er als Assistenten den Germaniker Karl Lehmann mit, der ihm dort in der Konzilsarbeit schon nützliche Dienste getan und seine gewaltige Heidegger-Arbeit an der päpstlichen Universität Gregoriana abgeschlossen hatte. Der zweite Assistent sollte ein Philosoph sein. Dafür verwiesen Pullacher Patres auf mich. Ahnungslos im Wohnheim auf meinem Zimmerchen, an dessen Wand ein Rahner-Foto hing, ans Telefon gerufen, hörte ich (der Hörer fiel mir fast aus der Hand): „Hier ist der Pater Rahner. Wollen sie bei mir Assistent werden?“
Der Schwerpunkt der Tätigkeit Rahners lag außerhalb der Universität. Im Vordergrund von Aufmerksamkeit und Einsatz standen die Arbeit am Lexikon für Theologie und Kirche und am Handbuch für Pastoraltheologie, besonders die Konzilstätigkeit und die zahlreichen Vorträge. Es galt, das Programm des „Aggiornamento“ umzusetzen.
Das Grundwort jener Jahre war: Arbeit – und zwar weniger als Forschung verstanden oder als prinzipielle Überprüfung und Durchklärung der eigenen Position und auch nicht eigentlich als Lehre, denn das klingt noch zu systematisch, sondern als „Auskunft“. Auskunft und Antwort auf grundsätzliche Zeitfragen, Antwort auf die unterschiedlichsten Anfragen in den übernommenen Vorträgen vor ganz verschiedenen Hörerkreisen, zu denen er im Auto oder Flugzeug auf dem Weg war.
Durch Rahner bin ich im übrigen in die Erwachsenenbildung hineingekommen: Weil er nicht alle Termine annehmen konnte, verwies er Fragesteller auf mich. Beim nächsten Mal wurde ich dann direkt eingeladen.

In ihrem eigenen Denken knüpfen Sie an die Transzendentalphilosophie und -theologie Karl Rahners an, zugleich haben Sie ihn aber auch in verschiedenen Punkten kritisiert? Wie würden Sie ihre Einstellung zu seinem Denken summarisch beschreiben? Und welchen Ort würden Sie sich selbst unter den Rahner-Schülern (Johann Baptist Metz, Herbert Vorgrimler, Karl-Heinz Weger) zuschreiben?

Ein Rahner-Schüler bin ich eigentlich nicht, obwohl ich durch die Arbeit für und mit ihm – über die frühere Lektüre hinaus – mich schon einen Kenner nennen darf. Mit Adolf Darlap und P. Weger war ich fast schon befreundet; Metz und ich saßen zusammen im Fries-Seminar, oft als „Kampfgefährten“ in Disputen. Überraschend nach Münster berufen, warb er mich als Ersatzautor des ihm zugedachten Band 1 der von Rahner konzipierten Laiendogmatik Der Mensch in seiner Freiheit (1967). Distanz habe ich immer zu Vorgrimler gehalten. Mich stört, wie er das persönliche Verhältnis Rahners zu ihm für seinen Privatstreit mit kirchlichen Autoritäten benutzt und damit P. Rahner selbst, bei dessen (trotz gelegentlicher Raunzerei) fragloser Kirchlichkeit, ins Zwielicht rückt.
Auch bin ich von Rahner im Laufe der Zeit ein Stück weg zu von Balthasar gekommen – und zwar gerade hinsichtlich des Dialogischen sowie beim Kern- und Lebensthema Trinität.

Sie erwähnten schon, daß Karl Lehmann neben Ihnen zweiter Assistent am Institut war. Im Vorwort Ihrer Habilitation über Die Rede vom Heiligen (1970) danken Sie ihm ausdrücklich für seine Anregung zu dieser Untersuchung. Wie kam es dazu?

Karl Lehmann war nicht zweiter Assistent, er war der erste; auch nach Kompetenz und Einsatz, von unglaublicher Arbeitskraft (so ja bis heute). Ich kann verstehen, daß manche Probleme mit diesem Engagement hatten. Ich nie. Und neben vielem anderen verdanke ich ihm tatsächlich mein Habil-Thema. Ich hatte verschiedenes ins Auge gefaßt, unter anderem Péguy. Aber Lehmanns Anregung leuchtete mir sofort ein. Es war ein Thema Bernhard Weltes und seiner Schule. Es geht um die Eigenqualität religiöser Erfahrung. Zuerst habe ich Wilhelm Windelband, Rudolf Otto, Max Scheler, Johannes Hessen, Paul Tillich, Martin Heidegger und die Welte-Schule mit ihrem Denken des Heiligen referiert, um dann nach einer Zusammenschau und der Diskussion diverser Einwände (dazu vor allem an Heinz Robert Schlette orientiert) einen eigenen Entwurf vorzulegen: das Heilige, vom Sakralen zu unterscheiden, erscheint im Zeugnis von ihm (im Konflikt der Interpretationen), und um seine Anerkennung geht es zuhöchst im religiösen Vollzug. Statt in (der Suche nach) Sinn und Heil, also zuletzt in uns, wie heute zumeist in Religionsphilosophie wie -theologie vertreten, sehe ich die Sinnspitze von Religion in der Anbetung des Heiligen, im Lobpreis seiner, im „Dank ob Seiner Herrlichkeit“.

Als weitere prägende Gestalten der Münchner Jahre erwähnen Sie Max Müller, weil er Ihnen die Begegnung der metaphysischen Tradition mit dem Denken Martin Heideggers vermittelte, und Reinhard Lauth und die Klarheit und Schärfe der von ihm vertretenen Transzendentalphilosophie, die sich vor allem auf Johann Gottlieb Fichte stützte…

P. Rahner fühlte sich in München nicht sehr wohl, besonders auch, weil er wegen Spannungen zur theologischen Fakultät nur in Philosophie promoviert hatte. 1967 hatte Metz ihm den Weg nach Münster geebnet. Rahner nahm Lehmann mit. Ich blieb als „philosophisches Strandgut“ zurück – und habe gar ein Jahr das Institut kommissarisch geleitet, bis man darauf kam, daß dafür ein „Assi“ nicht der rechte war, und Max Müller damit betraute. Der aber ließ mir große Freiheit. Dazu hatte ich einen Lehrauftrag an der Uni – und (für mich eine bewegende Freude) dozierte seit 1968 in Pullach Religionsphilosophie und Gotteslehre.
Am Institut hatte ich die Gastprofessoren zu betreuen: Gollwitzer, Ulrich Mann, P. Dumoulin... Dazu kamen Vortragstätigkeit und kleinere Publikationen.

Im Ganzen waren die sechziger Jahre eine Zeit der Umbrüche in Kirche und Welt. Wie haben Sie diese Veränderungen wahrgenommen? Welche Wirkung hatten sie auf Sie?

Als „Rahnermann“ hatte ich Probleme mit Konzilsgegnern auf der einen Seite (Reinhard Lauth, Helmut Kuhn), auf der anderen mit den Revolutionären. Da die Kaulbachstraße, in der das Institut beheimatet war, etwas abseits lag, ging es bei uns ruhiger zu. Immerhin wurde ein Dozent durch eine Glastür gestoßen, zum Glück ohne ernsthaftere Folgen. The­­o­logisch geriet ich ins Abseits; in den Studentengemeinden war mein „privatistisch“ existentieller Angang nicht gefragt. (Nach wie vor meine ich, der Vorrang des Politischen sei heidnisch, christlich steht der Einzelne mit seinem Gewissen vor Gott – so sehr sein Gewissen ihn gerade auf den Dienst am Nächsten verweist.)
Zur politischen Mentalität gehört für mich auch das „Lager“-Denken, das ich für meine Person zu unterlaufen suche (indem ich Einladungen zu Kirchentagen ebenso folge wie zum Kongreß „Freude am Glauben“, wissend, daß mich die Entschiedenen beider Seiten als unsicheren Kantonisten betrachten).
Bewußt bin ich eher konservativ und halte Schwierigkeiten mit Rom nicht eo ipso für einen Qualitäts-Ausweis von Theologie. So wenig, wie ich im Zweifel ein Güte-Siegel des Glaubens erblicke (zumal die Anwälte dessen offenbar Zweifel nicht mehr von Anfechtung zu unterscheiden wissen).
Nein, ich bin dankbar für die Überlieferung dessen, den nicht bloß Judas, der Hohe Rat und Pilatus überliefert haben, sondern zuletzt der Vater, ja er selbst, in der Überlieferung des Geistes (man suche in einer Konkordanz nach gr. paradidonai, lat. tradere).

weiter zu III. Werk (seit 1971)

 

 

Das vorstehende werkbioraphische Gespräch ist in gedruckter Form in der Publikation "Der Mensch als Weg zu Gott. Das Projekt Anthropo-Theologie bei Jörg Splett" (Hrsg: HG Nissing, München 2007) enthalten.